Neue Machtarchitekturen im Nahen Osten
von Michael Hollister
Erstveröffentlicht bei FREE21 Magazin am 15. November 2025
1.640 Wörter * 9 Minuten Lesezeit
Ein Pakt mit Signalwirkung
Am 17. September 2025 unterzeichneten Saudi-Arabien und Pakistan in Riad ein Verteidigungsabkommen, das weit über die üblichen militärischen Kooperationsverträge hinausgeht. Der Kern: Ein Angriff auf das eine Land soll als Angriff auf beide gelten (Al Jazeera, 17.09.2025; Reuters, 17.09.2025). Mit diesem Schritt setzen zwei Staaten, die auf den ersten Blick höchst unterschiedlich wirken — ein ölreicher Golfstaat und eine südasiatische Atommacht –, ein Signal in eine Region, die von Unsicherheit, Kriegen und geopolitischer Konkurrenz geprägt ist.
Während Pakistan seine strategische Relevance am Golf stärkt, gewinnt Saudi-Arabien eine zusätzliche Sicherheitsgarantie, die nicht aus Washington kommt. In einer Zeit, in der die USA durch Ukraine, China und innenpolitische Spannungen gebunden sind, stellt dies eine potenzielle tektonische Verschiebung dar — doch wie realistisch ist der Sprung von einem bilateralen Vertrag zu einer „arabischen NATO“? Diese Analyse zeigt mögliche Entwicklungslinien auf, ohne bereits eingeleitete Politik mit Zukunftsszenarien zu verwechseln.
Warum ausgerechnet jetzt?
Das Abkommen fällt in eine Phase zunehmender Destabilisierung im Nahen Osten. Verschiedene Akteure sehen die regionale Sicherheitslage als zunehmend prekär an. Seit Oktober 2023 führte Israel eine intensive Militärkampagne in Gaza und weitete seine Operationen auf Nachbarstaaten aus. Berichte dokumentieren Angriffe auf den Libanon, Syrien, den Jemen, sowie nach verschiedenen Quellen auch auf Katar, Tunesien und sogar den Irak; einzelne Operationen werden auch im Iran verortet (Al Jazeera, 10.09.2025; Al Jazeera, 01.08.2024).
Parallel stiegen die zivilen Opferzahlen nach palästinensischen und UN-Angaben auf ein erschütterndes Niveau. Schätzungen palästinensischer Behörden gehen von mehr als 60.000 getöteten Zivilisten in Gaza aus, viele davon Frauen und Kinder (The Guardian, 19.09.2025). Während verschiedene UN-Gremien unterschiedliche Bewertungen abgeben, sprach ein UN-Sonderberichterstatter offen von Völkermord-Vorwürfen (The Guardian, 16.09.2025; Amnesty International, 18.09.2025). Diese Zahlen und Einschätzungen haben — unabhängig von ihrer juristischen Bewertung — die Angst vor einem unkontrollierbaren Flächenbrand genährt und erklären, warum Staaten wie Saudi-Arabien und Pakistan nach neuen Sicherheitsarchitekturen suchen.
Atomwaffen als Abschreckung — Pakistans nukleare Karte
Im Zentrum des Abkommens steht die nukleare Dimension. Pakistan verfügt über ein Arsenal von mehr als 150 Atomsprengköpfen (Belfer Center, 2025) — darunter taktische Kurzstreckenraketen vom Typ Nasr mit 60km Reichweite bis hin zu Shaheen-III-Mittelstreckenraketen mit 2.750km Reichweite. Das Land signalisiert mit dem Vertrag, dass es bereit wäre, dieses Potenzial indirekt auch in den Dienst eines Partners wie Saudi-Arabien zu stellen. Für Riad bedeutet das: ein Schutzschirm, der über konventionelle Abschreckung hinausgeht.
Ob Pakistan im Ernstfall tatsächlich eine nukleare Karte spielen würde, bleibt fraglich. Historische Erfahrungen — etwa der Kalte Krieg zwischen USA und Sowjetunion — zeigen, dass Atomwaffen vor allem politisch wirken. Der entscheidende Punkt ist nicht ihre Anwendung, sondern die Glaubwürdigkeit der Drohung. Genau hier setzt das SA–PK-Abkommen an: Es erzeugt Unsicherheit bei potenziellen Angreifern, ob eine Aktion gegen Saudi-Arabien nicht einen Dominoeffekt auslösen könnte (Washington Institute, 19.09.2025).
Technische Grundlagen einer möglichen Allianz
Eine militärische Kooperation zwischen Saudi-Arabien und Pakistan baut auf bereits vorhandenen Komplementaritäten auf. Saudi-Arabien verfügt über moderne westliche Systeme: F-15SA-Kampfjets, Eurofighter Typhoon, Patriot-Raketenabwehr und das hochmoderne THAAD-System. Pakistan hingegen bringt chinesische Technologie mit — JF-17 Thunder-Kampfjets, HQ-9-Luftabwehr und Erfahrung im Umgang mit asymmetrischen Bedrohungen.
Die Interoperabilität wäre eine Herausforderung, aber nicht unlösbar. Beide Länder nutzen bereits Link-16-Datensysteme der NATO-Standards, und Pakistan hat Erfahrung mit der Integration verschiedener Waffensysteme. Gemeinsame Kommando- und Kontrollzentren, wie sie bereits zwischen VAE und Saudi-Arabien existieren, könnten als Blaupause dienen.
Von der Mini-Allianz zur „arabischen NATO“?
Aus Sicht der beteiligten Akteure könnte dies der Ausgangspunkt einer breiteren Allianz sein — einer Art „arabische NATO light“. Schon heute existieren regionale Sicherheitsformate wie die Arabische Liga mit ihrem Verteidigungsvertrag von 1950 oder die Peninsula Shield Force des Golfkooperationsrats. Doch beide gelten als zahnlos, da ihnen militärische Schlagkraft und gemeinsame politische Entschlossenheit fehlen (ISPIONLINE, 2025).
Ein Bündnis, das Saudi-Arabien und Pakistan als Kern hätte, könnte theoretisch diese Lücke schließen. Mit weiteren Partnern — etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Ägypten, Jordanien und perspektivisch auch Syrien oder dem Jemen — könnte ein Block entstehen, der militärische Abschreckung und ökonomische Macht miteinander verbindet.
Delhi’s Dilemma — Indiens wachsende Sorgen
Ein kritischer Aspekt, der in der westlichen Analyse oft übersehen wird, ist Indiens Position. Neu-Delhi beobachtet die pakistanisch-saudische Annäherung mit wachsender Unruhe — und das aus mehreren Gründen.
Erstens stärkt die Allianz Pakistans regionale Position erheblich. Mit saudischen Petrodollars im Rücken könnte Islamabad seine chronischen Finanzprobleme lindern und gleichzeitig militärisch aufrüsten. Zweitens eröffnet sie Pakistan einen zusätzlichen strategischen Raum jenseits der traditionellen China-Achse.
Besonders brisant: Indien unterhält selbst enge Beziehungen zu den Golfstaaten, insbesondere den VAE und Saudi-Arabien. Rund 8,5 Millionen Inder arbeiten in der Golfregion und überweisen jährlich über 50 Milliarden Dollar in die Heimat. Eine stärkere pakistanische Präsenz am Golf könnte diese wirtschaftlichen Beziehungen komplizieren.
Militärisch sieht sich Indien nun mit einem Pakistan konfrontiert, das potenzielle Rückendeckung durch eine Atommacht plus Ölgeld erhält. Das verschärft das strategische Dilemma in einem ohnehin angespannten Verhältnis, das von vier Kriegen und dem anhaltenden Kaschmir-Konflikt geprägt ist.
Können Rivalitäten überwunden werden?
Kritiker verweisen auf die internen Bruchlinien der arabischen Welt: Katar und Saudi-Arabien, VAE und Ägypten, die Syrien-Frage, unterschiedliche Iran-Politik. Doch Bündnisse existieren gerade, um Rivalitäten zu kanalisieren, wenn der strategische Nutzen groß genug ist.
Die NATO vereinte jahrzehntelang Erzfeinde wie Frankreich und Deutschland. BRICS bringt heute Indien und China an einen Tisch, obwohl sie schwere Grenzstreitigkeiten austragen (Times of India, 18.09.2025). Auch Russland und China entwickelten sich von Rivalen zu strategischen Partnern.
Die Lehre: Wenn der Druck hoch genug ist — etwa durch externe Bedrohungen oder die Notwendigkeit, Autonomie gegenüber den USA zu gewinnen –, können regionale Rivalitäten in den Hintergrund treten.
BRICS als geopolitischer Hebel
Besonders interessant wird das Szenario bei einer möglichen Anbindung an BRICS. Die Gruppe erweitert sich aktiv, Saudi-Arabien und die VAE wurden bereits eingeladen (Reuters, 31.08.2023). Mit Pakistan als Mitglied oder engem Partner könnte ein Sicherheits- und Wirtschaftsblock entstehen, der nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch Gewicht hätte.
Die BRICS-Dynamik eröffnet neue Wege: Ölgeschäfte könnten zunehmend in Renminbi oder anderen Währungen abgerechnet werden (Reuters, 17.01.2024), die New Development Bank böte alternative Finanzierungen, und Projekte wie mBridge schaffen technische Alternativen zum Dollar-System. Für arabische Staaten, die jahrzehntelang vom US-Dollar geprägt waren, wäre das ein Schritt zur größeren Autonomie.
Washington unter Druck
Die USA stehen vor einem strategischen Dilemma. Ein Zusammenschluss, der eine Atommacht einbindet und Israel indirekt einhegen könnte, wäre eine offene Herausforderung für die bisherige Ordnung im Nahen Osten.
Doch die USA haben begrenzte Kapazitäten. Mit dem Krieg in der Ukraine und der Konkurrenz zu China ist ihr strategischer Spielraum eingeengt (CFR, 2025). Ein neuer Großkonflikt im Nahen Osten liegt nicht im US-Interesse. Wahrscheinlicher ist, dass Washington durch eine Kombination aus diplomatischem Druck, selektiven Sanktionen und Rüstungskontrollen reagieren würde — militärische Intervention erscheint derzeit unrealistisch.
Praktische Umsetzung — was wäre möglich?
Militärisch könnten erste Schritte schnell folgen:
- Gemeinsame Luftraumüberwachung durch vernetzte Radarsysteme
- Koordinierte Raketenabwehr (Patriot, THAAD, HQ-9)
- Joint Maritime Operations im Roten Meer und Arabischen Golf
- Anti-Drohnen-Kapazitäten (bereits ein Schwerpunkt beider Länder)
- Gemeinsame Cyber-Defense-Zentren
Ein realistisches Stufenmodell könnte so aussehen:
- Phase 1 (0-6 Monate): Ausbau des SA-PK-Kerns, bilaterale Abkommen mit VAE, Bahrain. Erste gemeinsame Kommando- und Kontrollübungen, Datenaustausch zwischen Luftabwehrsystemen.
- Phase 2 (6-18 Monate): Aufbau integrierter Luftlagesysteme, koordinierte Raketenabwehr, gemeinsame Seepatrouillen im Roten Meer gegen Houthi-Drohnen.
- Phase 3 (12-36 Monate): Wirtschaftliche Integration: Ölverkäufe in alternativen Währungen, Nutzung der BRICS-Zahlungssysteme.
- Phase 4 (3-10 Jahre): Institutionalisierung mit gemeinsamen Stäben, regionalen Kommandozentralen, abgestimmter UN-Diplomatie.
Risiken nicht von der Hand zu weisen
- Eskalationsgefahr: Vage Beistandsformulierungen bergen Risiko von Fehlkalkulation.
- Indiens Gegenreaktion: Neu-Delhi könnte engere Militärkooperation mit Israel und den USA suchen.
- US-Sanktionen: Technologiebeschränkungen wären denkbar, sollte das Bündnis offen antiwestlich auftreten.
- Interne Differenzen: Ohne klare Entscheidungsmechanismen droht Handlungsunfähigkeit.
- Ökonomische Komplexität: De-Dollarisation ist ein langfristiger Prozess.
Fazit: Mehr als Symbolpolitik
Das Verteidigungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Pakistan ist mehr als diplomatisches Theater. Es könnte — betont: könnte — der Ausgangspunkt einer neuen Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten sein. Eine „arabische NATO light“, die militärische Abschreckung, ökonomische Integration und politische Blockbildung miteinander verbindet.
Die Wahrscheinlichkeit, dass daraus ein formelles NATO-ähnliches Bündnis wird, bleibt gering. Zu groß sind die internen Brüche und zu hoch die Hürden institutioneller Integration. Wahrscheinlicher ist ein modularer Ansatz: Ein Kern aus SA-PK, ergänzt durch bilaterale Partner und abgestufte Kooperationsformate.
Doch selbst in abgeschwächter Form könnte dieser Block geopolitische Wirkung entfalten: Er würde potenzielle Aggressoren zur Vorsicht mahnen, die US-Abhängigkeit reduzieren und dem Nahen Osten neue strategische Optionen eröffnen. Entscheidend ist, ob die beteiligten Staaten früh in Glaubwürdigkeit, technische Interoperabilität und De-Eskalationsmechanismen investieren. Nur dann kann die „arabische NATO light“ von einem politischen Signal zu einem stabilisierenden Faktor werden.
In einer Welt, in der die USA nicht mehr unangefochten dominieren und China sowie Russland alternative Ordnungsmodelle anbieten, experimentieren regionale Mächte mit neuen Allianzen. Das SA-PK-Abkommen ist ein weiterer Baustein in dieser multipolaren Realität — mit Folgen weit über den Nahen Osten hinaus.
Quellenverzeichnis (Auswahl)
- Al Jazeera (17.09.2025): Saudi Arabia signs mutual defence pact with nuclear-armed Pakistan.
- Reuters (17.09.2025): Saudi Arabia, nuclear-armed Pakistan sign mutual defence pact.
- Al Jazeera (10.09.2025): Maps: Israel has attacked six countries in the past 72 hours.
- Al Jazeera (01.08.2024): What countries has Israel attacked since October 7?
- The Guardian (16.09.2025): UN inquiry finds Israel committing genocide in Gaza.
- The Guardian (19.09.2025): Civilians made up 15 of every 16 people Israel killed in Gaza since March.
- Amnesty International (18.09.2025): UN report concluding Israel committing genocide in Gaza must spur action.
- Washington Institute (19.09.2025): Will Saudi-Pakistan defence pact have proliferation consequences?
- Belfer Center (2025): Beyond the hype: Pakistan-Saudi defense pact.
- Times of India (18.09.2025): Pakistan calls Saudi pact defensive arrangement, likens it to NATO.
- ISPIONLINE (2025): Saudi-Pakistan pact implications for India, US, Gulf.
- CFR (2025): Israeli-Palestinian conflict tracker.
- CFR (2025): War in Yemen conflict tracker.
- Human Rights Watch (04.06.2025): Yemen: US Strikes on Port an Apparent War Crime.
- Reuters (31.08.2023): BRICS expansion and implications for de-dollarisation.
- Reuters (17.01.2024): China’s mBridge cross-border payments project advances with Gulf participation.
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